Warum hat ein Normalobjektiv am Kleinbild 50mm?

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    „Ein Normalobjektiv hat eine Brennweite von etwa 50mm beim Kleinbildformat.“


    Ich habe versucht, der Frage nachzugehen, was hinter dieser Aussage steckt. Im Netz findet man dazu sehr schnell zwei vordergründige Antworten:
    - Der Öffnungswinkel der Normalbrennweite 50mm ergibt am Kleinbild einen diagonalen Bildwinkel von 46 Grad. Das entspreche dem „natürlichen Sehwinkel“ des menschlichen Auges.
    - Die Normalbrennweite sei so definiert, dass sie mit der Bilddiagonalen des Sensors/Films übereinstimmt. Und das ergibt beim Kleinbildformat dann etwa 50mm.
    Nach längerem Suchen findet man dann noch Aussagen von historisch versierten Leuten, die diese 50mm mehr als Zufall sehen, weil eben aus technischen Gründen das erste Leica-Objektiv für Kleinbildfilm 5cm Brennweite hatte. Das habe sich über eine lange Zeit hinweg durchgesetzt. „Die Käufer wollten 50mm - seit den Tagen des ersten ELMAR 5cm zur Leica.“ Andere, davon abweichende Brennweiten hatten keine Chance, als Normalobjektiv akzeptiert zu werden.
    Die erste Erklärung ist keine, wenn man nicht klar sagt, was man unter einem Sehwinkel des Auges versteht, und warum so eine Abbildung dann ein besonders realistisches Bild ergibt. Für die zweite, etwas klarere Definition habe ich keinen vernünftigen Grund gefunden. Sie wird einfach immer wieder behauptet. Und falls die dritte Erklärung zutrifft, dann muss es aber doch einen einleuchtenden Grund dafür geben, warum Generationen von Fotografen eine Kleinbildbrennweite von etwa 50mm als „normal“ ansehen.
    Also habe ich versucht, mir selber einen Reim drauf zu machen. Meine Fragestellung: Wie müssen die Bedingungen sein, dass ich beim Betrachten eines Bilds dasselbe sehe wie beim Betrachten der Wirklichkeit. Die Antwort darauf wird verblüffend einfach sein. Aber der Reihe nach …


    Der „Blickwinkel“ eines 50mm-Objektivs beträgt am Kleinbild (24mm x 36mm) in der Einstellung unendlich etwa 47 Grad. Entsprechend „sieht“ ein 24mm-Weitwinkel etwa 84 Grad und ein 135mm-Tele nur 18 Grad.


    Ich stelle mir ein Dia vor mit einer Landschaftsaufnahme, die ich an einem bestimmten Ort mit einem 50mm-Objektiv aufgenommen habe. Und ich begebe mich mit diesem Dia in der Hand an denselben Ort und halte es mir vors Auge. Indem ich den Abstand variiere, versuche ich das Dia mit dem Hintergrund zur Deckung zu bringen. Das ist prinzipiell einfach, aber ich kann das Bild auf dem Dia nicht scharf sehen, weil ich es sehr nahe an mein Auge bringen muss: nämlich auf 50mm Abstand! Bei diesem Abstand sehe ich es mit demselben Winkel, unter dem das Objektiv vorher die Landschaft abgelichtet hat. Weil mir also das Dia zu klein ist, kopiere ich es vergrößert auf eine Klarsichtfolie, sagen wir in der Größe 10cm x 15cm, und starte einen neuen Versuch. Jetzt erhalte ich einen augenfreundlichen Abstand von 21cm, bei dem das Bild genau mit dem Hintergrund zur Deckung kommt. Meine Töchter wären damit zufrieden, ich selber (weit jenseits der 50) nehme doch lieber eine Bildgröße von 14cm x 21cm, um einen angenehmen Betrachtungsabstand von 29cm zu erhalten.


    Hätte ich dasselbe mit einem 24mm-Weitwinkel gemacht, müsste ich das Dia im Abstand von 24mm vors Auge halten, das 10x15-Bild im Abstand von 10cm und das 14x21-Bild im Abstand von 14cm. Für mich völlig utopisch, dabei etwas scharf zu sehen. Mit einem 30x45-Poster und einem Abstand von 30cm könnte ich leben. Eindrucksvoll wäre wohl eine 2m breite Leinwand, auf die ich das Dia projiziere. Wenn ich dann auf einen Abstand von 133cm ran gehe, erhalte ich die realistische Weitwinkel-Ansicht, müsste aber meinen Kopf ganz schön drehen, um das ganze Bild zu überschauen (wie übrigens auch am Ort der Aufnahme, wenn ich alles überblicken will, was aufs Bild kommt).
    Umgekehrt ist es mit einem 135mm-Tele: Da braucht das Dia einen Abstand von 13,5cm, das 10x15-Bild einen Abstand von 56cm und das 14x21-Bild einen Abstand von 79cm.


    Was ist also ein Normalobjektiv? Das ist für mich zwar nicht exakt definierbar aber trotzdem einfach zu beantworten: Wir Menschen haben aufgrund unserer Augen-Anatomie bestimmte Vorlieben beim Betrachten von Bildern. 10x15-Bilder im Album holen wir gern möglichst nah heran, um sie groß zu sehen. Dabei setzt uns aber die Akkomodationsfähigkeit eine Grenze und wir wählen einen Abstand von 20 bis 25cm. Bei einem 30x45-Poster entfernen wir uns etwas weiter, um es noch „mit einem Blick“ zu überschauen, und nehmen einen Abstand von vielleicht 60 oder 70cm ein. Dieses Verhalten führt in beiden Fällen zu einem diagonalen Sehwinkel in der Größenordnung von 45 Grad. Denselben „Sehwinkel“ haben Objektive (am Kleinbildformat) mit einer Brennweite von etwa 50mm.


    In einem weiteren Beitrag werde ich noch die Frage klären, warum ein Weitwinkel verzerrt.

  • Danke auch von mir :danke:


    Ich habe allerdings irgendwo einen Knoten oder übersehe irgendwas, daher mal die Frage:
    Hast du die Abstände tatsächlich gemessen oder sind sie berechnet? Was mich dann zu der eigentlichen Frage bringen würde (oder auch nicht), wie es zu dem Winkel 47° bei menschlichen Auge kommst?

    • Offizieller Beitrag

    Equinox: die Abstände sind alle berechnet, sh. Abbildung.
    Nach meiner Theorie betrachten wir Bilder vorzugsweise aus einer Entfernung, die einen diagonalen Sehwinkel von etwa 45 Grad ergibt. Meine gewählten Beispiele waren:
    10cm x 15cm Bild betrachtet mit einem Abstand von 20-25 cm: ergibt rechnerisch einen Winkel zwischen 48 Grad und 40 Grad.
    30cm x 45cm Poster betrachtet mit einem Abstand von 60-70cm: ergibt rechnerisch einen Winkel zwischen 49 Grad und 42 Grad.
    Dia-Leinwand, 2m breit, betrachtet mit einem Abstand von 3m: ergibt rechnerisch einen Winkel von 45 Grad.

  • Zitat von "bertram"

    Equinox: die Abstände sind alle berechnet, sh. Abbildung.
    Nach meiner Theorie betrachten wir Bilder vorzugsweise aus einer Entfernung, die einen diagonalen Sehwinkel von etwa 45 Grad ergibt. Meine gewählten Beispiele waren:


    Ich hatte befürchtet, dass die Abstände berechnet sind, und genau das verwirrt mich. Vielleicht übersehe ich immer noch was, aber du setzt etwas voraus, was du eigentlich beweisen möchtest. Sprich, du könntest genau so 70°, 80° oder 90° nehmen können, das Ergebnis wäre dasselbe, nur mit anderen Werten (siehe deine Beispiele für 135mm-Tele).

    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    du könntest genau so 70°, 80° oder 90° nehmen können


    Nein, für 70 Grad müsste man ein 10x15-Bild aus einem Abstand von 13cm betrachten, eine 2m-Leinwand aus einem Abstand von 1,7m. Das ist völlig (unmöglich) unrealistisch.


    Nachtrag: die ersten Zahlen waren falsch.

  • Ich weiß; deshalb schrieb ich ja auch:


    Zitat

    das Ergebnis wäre dasselbe, nur mit anderen Werten (siehe deine Beispiele für 135mm-Tele)


    Wären die Abstände gemessen, und du hättest sagen wir mal bei 5cm Abstand die gleiche Gegenstandgröße (nämlich 24mm*36mm), dann hätte ich kein Problem mit dem Winkel. Aber bei vorgegebenem Winkel, ist es nur logisch, dass bei gleichem Abstand (hier zufällig Brennweite) Gegenstandgröße = Bildgröße ist.
    Aber ich glaube, ich muss den Knoten für mich lösen, bevor ich her für große Verwirrung sorge. Danke dir.


    Edit:
    Eine kleine Bemerkung zu Abbildung 1 (bei großen Abständen wichtiger): α/2 = 23,5°

  • Tach Zusammen,


    meiner Meinung geht um etwas Anderes. Ich habe bei dem Thema immer die Perspektive ins Spiel gebracht, was aber zu Mißverständnissen führte, da es unterschiedliche Interpretationen des Begriffes gab.


    Ich stelle mal folgende These auf:
    Wenn ich ein hohes Gebäude betrachte und den Kopf in den Nacken lege, entsprechen die stürzenden Linien, die ich mit meinem Auge sehe, denen eines 50mm Objektives.


    Gruß Uli

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Uli,
    nach dem Motto "Versuch macht kluch" habe ich auf dem Stativ schnell zwei Aufnahmen gemacht und dazwischen nur die Brennweite verändert, und nicht den Standpunkt oder die Blickrichtung:



    Wie man sieht, ändern sich die Winkel überhaupt nicht, wenn man die Brennweite ändert. Nur der Ausschnitt ist ein anderer.


    Nachtrag:
    Übrigens ist das auch so eine weit verbreitete Fehlmeinung, dass WW-Objektive zu stürzenden Linien führen würden. Der einzige Grund ist die Blickrichtung schräg nach oben. (Fällt mir nur gerade ein. Hat mit deiner These nichts zu tun.)

    • Offizieller Beitrag

    Hmm. Für mich liest sich das leider wie ein empirischer Versuch mit einer Probandengruppe in der Größe n=1. Wenn von Anfang an der Bildwinkel das Entwicklungskriterium gewesen wäre, wäre es dann nicht wahrscheinlich, dass sich eine entsprechender Angabe auf dem Objektiv durchgesetzt hätte? Warum steht auf einem Normalobjektiv nicht 45 Grad statt 50 mm?


    Nein, ich glaub das nicht. Ich glaube tatsächlich vorrangig an die Geschichte mit der Diagonalen des Aufnahmemediums. Das Wort vom 'Normal'-Objektiv kann ja durchaus auch mit der Festlegung eines Mittelwerts zu tun haben, einer 'Norm' um vergleichen zu können und um zu wissen, was ein Tele und was ein Weitwinkel ist.



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    • Offizieller Beitrag
    Zitat

    empirischer Versuch mit einer Probandengruppe in der Größe n=1


    :mrgreen: Warum nicht (mit entsprechendem Selbstbewusstsein)!


    Zitat

    Wenn von Anfang an der Bildwinkel das Entwicklungskriterium gewesen wäre, wäre es dann nicht wahrscheinlich, dass sich eine entsprechender Angabe auf dem Objektiv durchgesetzt hätte?


    Das glaube ich wiederum nicht, weil Linsen generell durch ihre Brennweite charakterisiert werden. Wegen der in dieser Größe einfacheren optischen Gesetze. Versuch doch mal die Linsengleichung mit dem Bildwinkel auszudrücken!


    Zitat

    Ich glaube tatsächlich vorrangig an die Geschichte mit der Diagonalen des Aufnahmemediums ... Mittelwert ...


    Gegen die Diagonale spricht auch in meiner Theorie nichts (ich komme ja zum selben Ergebnis), außer dass mir bisher keiner erklären konnte, warum gerade das ein Mittelwert zwischen Tele und Weitwinkel sein soll. Ich hab da einfach mal einen Erklärungsversuch gestartet. Woran kann man denn ein Tele oder Weitwinkel erkennen, wenn man nicht weiß, was ein Normalobjektiv ist?

    • Offizieller Beitrag

    Daran, ob die Brennweite größer oder kleiner als die Sensordiagonale ist, natürlich. Woran denn sonst? :mrgreen:


    Katze in den Schwanz und so. ;)



    Vom iPhone mit Tapatalk.

  • ... interessanter zugang zur materie von bertram, der sicher die quintessenz trifft, auch wenn er mir etwas umständlich erscheint.


    ich habe mir diese frage auch schon gestellt, gelesen habe ich hierzu noch nichts wirklich vernünftiges. insbesondere tue ich mir mit dem begriff des "natürlichen sehwinkels" schwer, da dieser begriff nicht wirklich sinn macht. leute, die sich mit fotographie auseinandersetzen sind ja meistens keine augenärzte: meine interpretation der dinge begründet sich:
    1. anatomie des auges, s. insbesondere netzhaut/fovea
    2. und der daraus resultierenden (subjektiven) sehweise (das was im gehirn vom gesichtsfeld (110° temporal, 60°nasal, 70° nach oben, 80° nach unten) differenziert verarbeitet wird). siehe hierzu z.b: http://de.wikipedia.org/wiki/Gesichtsfeld


    einfach ausgedrückt: im zentralen sehfeld von ca. 45° sehen wir ganz einfach mit abstand am besten (="natürlicher sehwinkel"), der rest wird wie eine "randerscheinung" wahrgenommen (genau nachgerechnet habe ich das nie, das physikum liegt 30jahre zurück, und jetzt fehlt die lust dazu...). aber wohl gemerkt: hier spielen subjektive seherfahrungen eine wichtige rolle: meine konsequenz fürs fotographieren: ich persönlich "mag" die 45-50mm nicht, meine lieblingsbrennweite sind 28mm (ggf. bis zu 35mm), und deshalb für mich bestgeeignet für "streetfotographie".


    lg, achim

    lg, Achim

    (Von mir eingestellte Bilder dürfen grundsätzlich bearbeitet und bei DFT gezeigt werden.)

    4 Mal editiert, zuletzt von aeirich ()

    • Offizieller Beitrag

    Interessant! Dieses "Gesichtsfeld" mit seinen 45 Grad würde sich also mit dem decken, was ich Sehgewohnheiten beim Betrachten der Bilder genannt habe: wir versuchen diese 45 Grad auszuschöpfen und gehen entsprechend nah an das Bild heran. (Stefan, dann hätten wir die Probandenzahl n schlagartig erhöht. :) )


    Dann wäre die Argumentation so:
    1. Unser Gesichtsfeld hat einen Sehwinkel von etwa 45 Grad.
    2. Wenn wir Bilder betrachten, versuchen wir diese 45 Grad auszunutzen, damit wir das Bild und damit die Details möglichst groß sehen. Damit bestimmt die Bildgröße den optimalen Betrachtungsabstand (oder umgekehrt).
    3. Die Brennweite von etwa 50mm ergibt ein Bild, das sich bei diesem Betrachtungsabstand exakt mit der realen Ansicht deckt.


    (Diese 50mm treffen beim Kleinbildformat zu, dessen Diagonale 43mm misst. Wenn man das Ergebnis formatunabhängig formulieren will, ergibt sich ganz grob: die Brennweite muss etwa so groß sein wie die Sensordiagonale.)

  • Zitat von "bertram"

    Interessant! Dieses "Gesichtsfeld" mit seinen 45 Grad würde sich also mit dem decken, was ich Sehgewohnheiten beim Betrachten der Bilder genannt habe: wir versuchen diese 45 Grad auszuschöpfen und gehen entsprechend nah an das Bild heran. (Stefan, dann hätten wir die Probandenzahl n schlagartig erhöht. :) )


    Dann wäre die Argumentation so:
    1. Unser Gesichtsfeld hat einen Sehwinkel von etwa 45 Grad.
    2. Wenn wir Bilder betrachten, versuchen wir diese 45 Grad auszunutzen, damit wir das Bild und damit die Details möglichst groß sehen. Damit bestimmt die Bildgröße den optimalen Betrachtungsabstand (oder umgekehrt).
    3. Die Brennweite von etwa 50mm ergibt ein Bild, das sich bei diesem Betrachtungsabstand exakt mit der realen Ansicht deckt.


    ... das könnte ich so ca. stehen lassen. nur ergänzend zur genauen befriffsdefinition: das gesichtsfeld im med. sinne hat natürlich mehr als 45°, aber das ist der bereich, in dem wir "gut" sehen, bzw. optisch gut wahrnehmen. damit wäre für mich nur der begriff "natürlicher sehwinkel" plausibel geklärt, aber letztlich nicht der begriff "normalobjektiv" ;)


    lg, achim

    lg, Achim

    (Von mir eingestellte Bilder dürfen grundsätzlich bearbeitet und bei DFT gezeigt werden.)

    • Offizieller Beitrag

    Ich meine schon! Wenn du ein 10x15-Bild hast, versuchst du es im Abstand 20cm zu betrachten, weil du dein Sehfeld ausnutzen willst. Das ergibt 45 Grad in der Diagonalen. Wenn du es in diesem Abstand am Aufnahmeort vor das Auge hältst, deckt es exakt die abgebildete Realität ab.
    Wurde hingegen bei der Aufnahme eine größere Brennweite benutzt, erhält das Auge beim Abstand 20cm eine vergrößerte Ansicht. Für eine genaue Abdeckung der Realität müsste man das Bild weiter vom Auge entfernen. Das widerstrebt aber unseren Sehgewohnheiten.

  • Zitat von "bertram"

    Ich meine schon! Wenn du ein 10x15-Bild hast, versuchst du es im Abstand 20cm zu betrachten, weil du dein Sehfeld ausnutzen willst. Das ergibt 45 Grad in der Diagonalen. Wenn du es in diesem Abstand am Aufnahmeort vor das Auge hältst, deckt es exakt die abgebildete Realität ab.
    Wurde hingegen bei der Aufnahme eine größere Brennweite benutzt, erhält das Auge beim Abstand 20cm eine vergrößerte Ansicht. Für eine genaue Abdeckung der Realität müsste man das Bild weiter vom Auge entfernen. Das widerstrebt aber unseren Sehgewohnheiten.


    = richtig

    lg, Achim

    (Von mir eingestellte Bilder dürfen grundsätzlich bearbeitet und bei DFT gezeigt werden.)