Die kleine Brennweite eines Weitwinkel-Objektivs gestattet uns einen größeren Blickwinkel aufs Bild zu bannen. Bei einem Superweitwinkel z.B. mit 14mm (KB) ergibt das einen diagonalen Winkel von 114 Grad. Das kann man erstens dazu nutzen, einfach mehr aufs Bild zu bekommen, ohne den Abstand zum Motiv zu vergrößern. Und zweitens kann man ein festes Motiv auch bei kleinerem Abstand noch ganz aufs Bild bekommen.
Weitwinkel-Fotografen schätzen die besondere Wirkung, die solche Aufnahmen erzeugen. Die Perspektive hebt Gegenstände im Vordergrund hervor, weil sie wegen des kleineren Abstands deutlich größer gesehen werden als gleich große Gegenstände im Hintergrund. Die Bilder wirken teils sehr dynamisch. Die Randbereiche der Bilder erscheinen aber irgendwie unwirklich oder verzerrt. Je kleiner die Brennweite, desto mehr fällt das auf.
Ich habe versucht, mir zu erklären, warum das so ist. Meine These: Weitwinkel verzerren nicht. Die Verzerrung entsteht erst dann, wenn wir Weitwinkel-Bilder nicht mit dem „richtigen“ Abstand betrachten. Denn meist betrachten wir sie in einem Abstand, dessen Blickwinkel viel kleiner ist als der Blickwinkel, der bei der Aufnahme nötig war.
Nehmen wir ein Superweitwinkel mit einem Blickwinkel von 110 Grad. Damit fotografieren wir einen Gegenstand, der über die ganze Länge gleich breite Abstände aufweist, etwa einen Lattenzaun. In der Abbildung sieht man, dass auch die Abstände der Latten auf dem Sensor exakt gleich groß sind. Das Objektiv ist ja auch so gerechnet, dass die Abbildung möglichst eine zentrische Streckung und damit längen- und winkeltreu ist. Ich habe zusätzlich die Sehwinkel berechnet für die Abstände zwischen den Latten. Diese nehmen natürlich nach außen hin ab, weil die äußeren Abstände weiter entfernt sind und auch nicht frontal gesehen werden. So ist der Sehwinkel für den äußersten Abstand gerade noch ein Drittel eines Sehwinkels in der Mitte. Für unser Auge, das gerade in diese Richtung blickt, erscheint diese Strecke nur ein Drittel so groß. Und auch vertikal sehen wir die Höhe der Latten kleiner als in der Bildmitte.
Dieses Sensorbild wird jetzt ausbelichtet, z.B. auf 10x15cm, auf 14x21cm und als Poster mit 30x45cm. Wenn wir diese Bilder dann genau so betrachten wollen, wie die Ansicht bei der Aufnahme war, dann müssen wir einen Sehwinkel von 110 Grad einhalten. Und das tun wir in der Regel nicht. Denn bei dem kleinen Bild bräuchten wir dazu einen Betrachtungsabstand von 6cm, beim mittleren 9cm und das Poster müssten wir mit 19cm Abstand betrachten. Am ehesten ginge das noch auf einer 2m-Dialeinwand: wir müssten einen Abstand von 88cm einnehmen. Und um alles zu sehen, müssten wir den Kopf in alle Richtungen drehen. Aber: wir hätten die gleiche Ansicht wie bei der Aufnahme. Zweiflern kann ich nur raten, das mal auszuprobieren! Hätten wir uns die Mühe gemacht, bereits bei der Aufnahme mit den Augen die ganzen 110 Grad zu überblicken, wäre es uns genauso gegangen: wir hätten den Kopf und wahrscheinlich den ganzen Körper deutlich von links nach rechts geschwenkt und auch von oben nach unten.
Weil wir also einen falschen Betrachtungsabstand wählen, bekommen wir eine Ansicht, die ziemlich verzerrt ist, obwohl doch die Lattenabstände auf dem Bild gleich groß sind! Wie erklärt sich das?
Nehmen wir an, wir betrachten die Bilder in üblichem Abstand mit einem Blickwinkel von etwa 45 Grad. Dann variieren die Sehwinkel für die einzelnen Lattenabstände nur geringfügig von 4,8 Grad bis 4,2 Grad. Das heißt, sie erscheinen uns fast gleich groß. Und auch die vertikale Länge der Latten erscheint uns fast gleich groß, weil wir ja von allen Latten fast gleichen Abstand haben. Das heißt also, dass wir randnahe Gegenstände im Vergleich zu gleich großen Gegenständen in der Bildmitte deutlich größer sehen als am Ort der Aufnahme, wo sie uns fast dreimal kleiner erschienen.
Dies kann man bereits feststellen ohne die Dreidimensionalität des Gegenstandraums zu berücksichtigen, allein bei diesem einfachen Sachverhalt eines eben gedachten Lattenzauns. Bei realen Bildern kommt noch dazu: die äußeren Latten sehe ich in Wirklichkeit (am Aufnahmestandort) mehr von der Seite als von vorne. Wenn ich das Bild aber mit Sehwinkel 45 Grad betrachte, sehe ich den Zaun mehr frontal, also erscheinen die äußeren Latten nach außen gedreht. Und ganz fatal wird es, wenn man Gegenstände hinter dem Zaun einbezieht. Diese scheinen nicht am richtigen Platz zu stehen, wenn man das Bild wie üblich mit zu großem Abstand betrachtet.
Deswegen meine Feststellung:
1. Weitwinkel verzerren nicht.
2. Beim Betrachten von Weitwinkelaufnahmen sehen wir (in aller Regel) nur ein Zerrbild der Wirklichkeit, weil wir den „falschen“ Abstand wählen.
Nachtrag: Weiter unten habe ich noch Beispielbilder angefügt.