Zeitgenössische Ortsentwicklung

  • dass nämlich die uns heute so homogen erscheinenden Altstädte teilweise ziemlich zusammengeschustert sind und einem Experten vergangene Stilsünden massiv vor Augen führen. Wir als Laien erkennen viele dieser Stilbrüche nicht. Neue Gebäude fielen aber den damals lebenden Menschen oft genauso unangenehm als stillose Modernität auf wie uns heute das neue Bürohochhaus.

    Das ist genau mein Verdacht (gegen mich selbst). Und deswegen versuche ich immer wieder, zumindest hier auf den Dörfern, hinzusehen und das Gelungene in neueren Stadtbildern zu erkennen und zu fotografieren. Und wie gesagt: nicht das Einzelgebäude, sondern die Ensemble-Wirkung. Aber ach, das ist echt schwierig.


    Vielleicht haben die Architekten unter den Forenmitgliedern ja ein Tipps für uns?

  • Hier mal ein Gebäudekomplex direkt hinter unserer Stadtmauer angelegt...modernes Wohnen inmitten der Altstadt.

    Und es fügt sich ganz gut ein, auch wenn man das hier nicht so gut sieht.



    lg willi

    "Es kann von keinem vernünftigen Menschen jeden Tag was Gescheites kommen." Hans Meyer

  • Willi : so eine Bauhaus-Siedlung ist natürlich schon spannend. Kannst Du von der Ecke nicht auch ein paar Aufnahmen machen, wie sich das so im Zusammenhang macht? Also nicht nur Einzelgebäude? (Muss ja nicht gleich heute sein ;)) . Aber das sind genau soche Ecken, die ich hier auch suche - natürlich stoße ich auf dem Dorf nicht auf stilistisch einwandfreie Bauhaus-Siedlungen, aber eine moderne Bebauung, die stilistisch eine Richtung erkennen lässt, wäre ja auch schon interessant.

  • Kannst Du von der Ecke nicht auch ein paar Aufnahmen machen, wie sich das so im Zusammenhang macht? Also nicht nur Einzelgebäude?

    Kann leider nur mit den nachfolgenden Aufnahmen dienen, hätte gern mal von weiter oben fotografiert, aber da müsste ich mir eine Hebebühne mieten, der Aufwand war mir denn doch zu groß...













    lg willi

    "Es kann von keinem vernünftigen Menschen jeden Tag was Gescheites kommen." Hans Meyer

  • Kann leider nur mit den nachfolgenden Aufnahmen dienen

    Also, die sind doch schon sehr beeindruckend, auch die Fotos gefallen mir, besonders #2 und #4, wo man den Zusammenhang mit der vorhandenen Umgebung sieht. :daumenhoch: Die Idee, so eine Siedlung direkt an die alte Stadtmauer zu nageln, finde ich schon sehenswert und spannend. Egal, ob man das persönlich mag oder nicht - das ist wenigstens mal ein erkennbares Konzept. (Ob es was bringt, wenn ich das dem Bau-Ausschuss unseres 5.000-Seelen-Nests für die nächste Neubausiedlung ans Herz lege? Aber wir haben ja nicht mal 'ne alte Stadtmauer ...)

  • Ich bin dann mal gestern in unserer Stadt losgezogen mit meinem 10 - 24 am Crop und habe versucht ein paar Bilder zu machen. Ich bin nicht so der Stadtfotograf und ob die jetzt gut fotografiert sind weiss ich nicht. Bessere Ideen hatte ich keine.


    Ich sehe es eigentlich nicht ganz so eng mit den neuen Gebäuden. Mir gefallen die z.T. doch recht gut bzw. ich sehe sie als belebendes Element an. Bei uns gibt es da einige Beispiele denke ich, nur sie stehen oft noch (wird sich in den nächsten Jahren aber ändern) relativ alleine rum bzw. oft neben alten Gebäude, sprich bei uns ist das oft ein Kuttelmuddel und das gefällt mir nicht so.


    Aber es gibt auch Beispiele, die aus meiner Sicht mit einer Siedlung im Bauhausstil gut mithalten können. Ich finde die nämlich relativ langweilig, aber das ist Geschmacksache. Ein Beispiel dafür wäre unsere "Wohnanlage Stadion". Sie wurde auf dem Grundstück eines ehemaligen Fussballstadion gebaut. Ich kannte das Stadion noch. Ich fand die Idee ganz nett. Ist aber auch schon wieder 30 Jahre her. Oh sehe gerade da gibt es sogar einen Wikipedia Eintrag.


    Grundriss der Anlage


    1) Dass man sich das vorstellen kann der Versuch eines Überblicks



    2) Teil eines Rundbogens von aussen




    2) Im Innenbereich sieht es so aus



    3) oder so



    4) oder auf der Gerade




    plus ein paar Panoramen usw....

  • Ich bin dann mal gestern in unserer Stadt losgezogen

    Das ist das Beste, was man sich als Themen-Starter wünschen kann. :smile:

    Ein Beispiel für eine ganze Siedlung wäre unsere "Wohnanlage Stadion".

    Und jetzt sind wir beim Kern der Sache. Tolles Beispiel, interessante Stadtarchitektur, ja vielleicht wirklich etwas, was sich zumindest ein paar Klassen von Architektur- und Stadtplanungs-Studenten zukünftig mal ansehen, als Beispiel aus der Zeit "um die Jahrtausendwende". Oder eben Foto-Amateure mit offenen Augen.


    Erinnert mich übrigens ganz entfernt an die Gropius-Wohnanlage in Berlin.

  • Ich muss noch einmal auf meinen letzten Beitrag zurückkommen, ich hatte glatt vergessen noch einen Hinweis auf eine der Quellen meiner Weisheit zu geben: Die Casa Milà in Barcelona hatte ich vor einigen Jahren besucht und natürlich auch das dort im Dachboden untergebrachte Museum besichtigt. Man beachte bei dem verlinkten Beitrag den zweiten und vierten Absatz. Der letztere wird dann nur zwei Zeilen drunter relativiert und das zeigt den Wandel in der Betrachtung von Architektur. Für mich ist die Casa Milà ein hervorragend gelungenes altes Gebäude. Aber seinerzeit ist der Jugendstil in seinen lokalen/regionalen Spielarten (hier Modernisme Català) nicht überall besonders gut angekommen.


    Übrigens bin ich nicht der einzige hier im Forum, der Gaudi schätzt, habe ich doch im August 2019 mit einer Aufnahme aus der Casa Milà beim Wünschethread das Recht erworben, den nächsten Wunsch zu formulieren ;)

    Gruß
    Peter


    [ô]  PENTAX K-1 / PENTAX K-3 / PENTAX K-30 - Objektive siehe Profil

  • Da mein Vater bei der damaligen Bundesbahn gearbeitet hat, bin ich viele Jahre in Wohnsiedlungen der Bahn aufgewachsen. Eine davon steht (auch heute noch) in Frankfurt Nied, ist allerdings inzwischen vollständig privatisiert, d.h. die Immobilien an Privat verkauft.
    Als Kinder haben wir uns da einfach nur sau-wohl gefühlt, aber nicht darüber nachgedacht. Heute sehe ich rückblickend, wie "menschlich" diese Siedlungen in ihrer Grundstruktur angelegt waren, z.B. durch "Wagenburg"-ähnliche Anordnung (der Verkehr bleibt draußen), großzügige Grünflächen und sozialisierte Gartenlandschaften.

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    Witzig ist, dass es schon in den 70-er Jahren schwierig wurde, ein kleines Familienauto (z.B. Kadett oder Fiat 132) in die Garagen zu bugsieren. Wer nur ein Gogo oder einen Kabinenroller hatte, tat sich leichter.


    Aber eigentlich passen diese Fotos nicht in diesen Thread, denn ich suche ja grade nach NEUEREN Beispielen für solche Siedlungen. Die Grundanlage der Siedlung in FFM Nied stammt von einer Werkssiedlung der Farbwerke Hoechst und war/ist über 100 Jahre alt. Damals haben die das hinbekommen.

    • Offizieller Beitrag

    Ich mache das ja beruflich und habe mich deshalb bisher ein wenig zurückgehalten. Trotzdem möchte ich ein paar dürre Meinungen zum besten geben, momentan erst mal ohne Bilder:


    Die Stadtentwicklung seit den 50ern, vielleicht sollte man genauer sagen, seit dem Ende der Gründerzeit, ist nicht ohne weiteres zusammenzufassen. Deutschland ist in dieser Zeit durch dramatische Phasen der Geschichte gegangen. Auch der Siedlungs- und Baugeschichte.


    Zuerst war Deutschland eine der Keimzellen der Moderne, nur um kurz darauf nach der unseligen Machtübernahme der Nationalsozialisten in einen Richtungsstreit zwischen der jungen Moderne und der rückwärtsgewandten - 'Blut- und Boden'-Ideologie zu fallen. Exemplarisch kann man das in Stuttgart an den benachbarten Weißenhofsiedlung und der heute deutlich unbekannteren Kochenhofsiedlung besichtigen. Der Kochenhof war in seiner ursprünglichen Form wohlgemerkt von der Architekten der 'Stuttgarter Schule' unter Schmitthenner gebaut worden. Beteiligt waren Architekten wie zum Beispiel Paul Bonatz, der auch den bekannten Altbau des Stuttgarter Bahnhofs geplant hat. Und es handelte sich - festhalten - um eine Bauaustellung in Sachen 'Deutsches Holz'. Aus der Tatsache, dass die Realisierung im Jahr 1933 erfolgte kann man ablesen, dass das keine Erfindung der Nazis war. Sehr willkommen war es aber ganz bestimmt. Kurioserweise redet heute auch alles wieder vom Holzbau. Zum Glück aus anderem Grund.


    Unter den Nazis entwickelte sich das Bauen straff in Richtung Neoklassizismus und Gigantomanie. Die niemals abgeholten Travertinsäulen für die ein Mussolini-Denkmal in Berlin, die auch heute noch in Stuttgart Münster im Steinbruch stehen, erzählen viel davon.


    Nach dem Krieg sah die Welt sehr anders aus. Es wurde Wohnraum gebraucht. Schnell. Weitgreifend wurden in Rekordzeit Siedlungen errichtet, deren Hauptziel gesunde, undogmatisch gestaltete (mehrheitsfähige) und vor allem preiswerte Unterkunft war. Teilweise waren das Mietobjekte, teilweise Eigentum. Oft wurde hier an die Ideale der Moderne oder auch an die Gartenstadtidee angeknüpft. Urbane oder enge dörfliche Strukturen galten als ungesund und ungeeignet. Selbstversorgung im eigenen Garten war ein wichtiges Element. Gleichzeitig wurden natürlich auch Innenstädte wieder aufgebaut, sofern sie zerstört waren. Stilistisch regierte dabei aber oft der Rotstift. Gleichzeitig wurde Wohnungsgrundrisse deterministisch. Jedes Zimmer hatte eine klare Optimierung auf seinen Zweck, die Flexibilität eines Gründerzeithauses ging verloren, die Wohnungen wurden erstmal kleiner.


    Mit dem Wirtschaftswunder im Westen kam der Wohlstand und der Drang zum Eigenheim im Grünen. Sprawl setzte ein. Die Zersiedelung des Umlands. Bis heute der Wohntraum vieler Deutscher, der zur Zeit durch Corona eine unheilige Renaissance erlebt. Die Probleme des Flächenverbrauchs und der Verkehrsströme - Pendelstrecken wird auch weiterhin hartnäckig ignoriert.


    Gleichzeitig entwickelte sich aus den Ideen der Moderne auch die Strömungen des Internationalen Stils und des Brutalismus, mit denen - was aus heutiger Sicht ein Fehler war - vor allem Wohnstädte für die sozial schwächeren Schichten gebaut wurde. Die sogenannte Raumstadt bestand aus hohen, oft scheibenartigen Gebäuden und ergänzenden Flachbauten mit Gemeinschaftseinrichtungen und Handel / Gastronomie. Die Verkehrsräume für Autos wurden optimiert, diejenigen für Fußgänger wurden vom Autoverkehr getrennt und verliefen häufig auf Brücken oder unter Dächern. Dass solche Strukturen hervorragend funktionieren - auch fünfzig Jahre später - zeigt sich dort, wo von Anfang an Eigentumswohnungen realisiert wurden. Ich wohne selbst in der damals größten Wohnungseigentümergemeinschaft Deutschlands, drei Scheibenhochhäusern oberhalb von Stuttgart, ich glaube das ist relativ bekannt. Hier funktionieren bis heute die Einkaufsmöglichkeiten, die Gastronomie, das Hallenbad auf dem Dach und vor allem das soziale Gefüge aus gealtertem gehobenem Mittelstand.


    Gescheitert sind diese Projekte aber überall dort, wo Menschen nicht freiwillig dort etwas kauften, wo ohne die nötige Durchmischung nur billige oder geförderte Mietwohnungen entstanden. Menschen, die in solche Objekte zogen, taten das selten freiwillig. Es entwickelten sich soziale Brennpunkte, die das Bild des Brutalismus und des Internationalen Stils bis heute belasten. In der ehemaligen DDR galt eine Wohnung in derart gebauten Neubausiedlungen (heute despektierlich als 'Platte' bezeichnet) übrigens nach meiner Kenntnis als Privileg. Der Umbruch in den 90ern fiel allerdings schmerzhaft aus.


    Seit den 80er Jahren sinkt das Bauvolumen, Strömungen wie die Postmoderne prägen unterschwellig viele Gebäude. Gleichzeitig ändern sich die Bauweisen. Das Gebaute wird zunehmend individueller, der Drang sich abzuheben, ironisch zu kommentieren steht im Wettstreit mit der einsetzenden Öko-Bewegung (auch im Bauen), dem Denkmalschutz, der Idee der Stadtreparatur usw. Der Drang in die Fläche ist noch ziemlich ungebrochen.


    Später steigt das Volumen in Wellen wieder an. Stadt und Architektur entwickelt sich in den gefestigten Strukturen der gewachsenen Bundesrepublik in Projekten. Teilweise entstehen ganze Städte neu (Ostfildern-Scharnhauser Park, München Riehm, Heidelberg Bahnstadt , Hamburg Hafencity oder Freiburg Rieselfeld, um nur einige der jüngeren Beispiele zu nennen), meist sind es aber schlicht Neubaugebiete, später oft Konversationsflächen in denen bauträgerhaftes Bauen stattfindet.


    Dort kann man vielleicht am ehesten auf die Suche nach dem gehen, was Deiner ursprünglichen Frage nachspürt.


    Was trotz der neuen Liebe zu den Innenstädten (die wir in den letzten mind. zehn Jahren sehen können) nicht geändert hat, ist dass in vielen Fällen durch das Bauen soziale Trennung manifestiert wird. Das Arbeiten trennt sich vom Wohnen, die sozialen Schichten trennen sich auf und verlieren die gemeinsame Basis. Das Unternehmen in dem arbeite, kämpft im Gesellschafterauftrag dagegen an. Wir versuchen sozial durchmische Quartiere zu schaffen, in denen die Käufer von Penthäusern eine Gemeinschaft mit Mietern von geförderten Wohnungen bilden, in denen soziale Einrichtungen und Gemeinschaftsfächen oder -räume Brücken anbieten. Seniorenwohnen wird mit Kitas gekoppelt usw. Aber leicht ist es nicht, in Zeiten von galoppierenden Grundstücks- und Baukosten ein Angebot an die gesellschaftliche Mitte und an die ganze Breite der Gesellschaft zu machen. Wir bleiben dran!


    Auch ein Ziel für Deine Frage wäre zum Beispiel das französische Viertel in Tübingen. Dort waren die Zielsetzungen geprägt von der Idee, Leben und Arbeiten wieder näher zusammen zu bringen, ähnlich wie wir uns das in der mittelalterlichen Stadt vorstellen. Gleichzeitig wurden die Gebäude häufig von Baugemeinschaften umgesetzt. Also von Gruppen von Leuten, die sich ohne einen Bauträger organisieren, um gemeinsam ein Mehrfamilienhaus bauen zu lassen.


    Okay. Genug für heute. Ich hoffe, es war nicht allzu viel falsch in diesem Text. ich habe das aus dem Bauch geschrieben, nichts nachrecherchiert. Die groben Züge sollten stimmen. Vielleicht trägt das ein bisschen zum Verständnis bei, warum sich unsere Städte so entwickeln, wie es tun. Vielleicht hilft es bei der Motivsuche.